Fallakte Jürgen - Emotionale Deprivation in der Vorstandsetage
Essay – Psychologische Tiefenbohrung | Lesezeit: 7-9 Min
Beginnen wir unsere Autopsie mit dem erfolgreichen Totalschaden. Jürgen.
Jürgen steht stellvertretend für eine ganze Generation von Führungskräften.
Für Günther. Für Peter. Für Klaus.
Ein wenig adipös.
Ein wenig feist.
Ein wenig cholerisch.
Vernachlässigt im besten Wortsinn.
Jürgen liegt nicht am Boden. Er steht an der Spitze. Er führt. Er entscheidet. Er verantwortet. Er stirbt langsam, systematisch, unter Applaus.
Er ist das Paradebeispiel einer Führungskraft, die alles kann.
Außer sich selbst zu spüren.
Ein Körper im Anzug, durchgetaktet wie ein Konzernjahresplan. Vernäht mit Zielvereinbarungen. Vollgepumpt mit Angst und Espresso. Seine Haut ist grau von Meetings und Schlafentzug. Seine Augen leer. Er atmet Effizienz, aber erstickt an allem, was nicht messbar ist.
Jürgen ist nicht krank. Jürgen ist das Resultat. Das Resultat einer Welt, in der man Emotionen archiviert, Zweifel diszipliniert und Menschlichkeit in Slide Decks mit KPIs misst.
Er spricht in Excel, er denkt in Gantt-Charts, er lebt in einer Struktur, die Empathie als Schwäche und Anpassung als Tugend verkauft. Er ist ein Hohepriester der „Leistungs“-Gesellschaft. Seine Hauptleistung besteht darin, Emotionen zu unterdrücken. Hart. Unnachgiebig. Unerbittlich.
Bis auf diese kleinen Zusammenbrüche. Die Wutausbrüche, in denen er die Kontrolle verliert. Das Geschrei am Telefon. Die Beleidigungen, die er in absoluter Überforderung seinen Mitarbeitenden an den Kopf wirft. Der Ton ist eben rau.
Das stimmt. Wenn aus einem adipösen Manager, der sich sein Leben lang vernachlässigt hat, ein sechsjähriger Junge wird. Ein Junge, der mit dem Fuß aufstampft: Dann wird der Ton rau.
Aber er ist gut im Verdrängen. Was an ihm noch fühlt, wird pathologisiert. Was an ihm noch fragt, wird mit mehr Verantwortung erstickt. Er erweitert lieber seine Führungsspanne, als einen Moment zu versuchen, sein Inneres wahrzunehmen. Weil er zerbrechen würde.
Seine Gefühlswelt ist für ihn kein Ort. Sie ist eine Restfläche im Businessplan, versehentlich nicht gelöscht.
Und während er durch Abteilungen marschiert, fragt niemand, was es kostet, einen Menschen so lange zu funktionalisieren bis von ihm nichts bleibt außer einem Outlook-Avatar und der leisen Sehnsucht, einmal wirklich irgendwo zu sein. Das ist die Kehrseite der Medaille. Jürgen ist erfolgreich, aber er ist nicht wirklich.
Doch er ist nicht nur Opfer - er ist auch Architekt. Er sitzt nicht zufällig an der Spitze. Er schafft die Regeln, an denen andere zerbrechen. Er modelliert ein System, in dem Verletzlichkeit den Job kostet, in dem Kontrolle Empathie ersetzt, in dem seine eigene innere Leere zur Blaupause für alle wird. Denn wer keine Gefühle zulässt, duldet sie auch bei anderen nicht. Hat Angst vor ihnen. Panik.
Jürgen ist der Priester der funktionalen Verleugnung und sein Evangelium lautet: Leistung über Leben. Er kuratiert Burnouts wie andere Businesspläne. Perfekt terminiert, effizient integriert, und maximal desinfiziert von allem, was nach Gefühl riecht.
Er delegiert nicht nur Aufgaben. Er delegiert emotionale Kälte nach unten. Und dort, ganz unten, brennen die Mitarbeiter leise aus, zerschlissen zwischen Deadlines und dem Zwang, normal zu wirken, während sie innerlich verrotten an denselben Idealen, die Jürgen ihnen vorlebt.
Denn Jürgen rechtfertigt sich mit Narrativen, die er als Schutzwall gegen die Realität baut. Damit das Monster der Wahrheit ihn nachts nicht frisst, wenn er nach dem zehnten Afterworkdrink stark schwitzend im Hotelzimmer liegt.
„Lehrjahre sind keine Herrenjahre.“
„Ich musste auch viel Mist fressen um an die Spitze zu kommen.“
„Es versteht sowieso niemand den Druck hier oben.“
Alles vorgebracht im wütenden Ton eines zutiefst unverstandenen und übergangenen Mannes. Nur eben mit einer Führungsspanne von 1000 Mitarbeitenden, einem Schweizer Bankkonto und einer übermäßig stark pulsierenden Halsschlagader.
Doch, Jürgen. Ich verstehe. Aber der Druck ist selbstgemacht. Und der Mist, den du frisst, ist der Mist deiner eigenen fehlenden emotionalen Landkarte. Nur, dass du nicht in Therapie gehst.
Du nimmst ganze Systeme in Geiselhaft.
Unsichere Bindungen führen zu dicken KPI-Zombies
Jürgen hat früh gelernt, dass Nähe keine Konstante ist. Dass Liebe eine Währung ist, die man sich verdienen muss.
Mit Leistung.
Mit Anpassung.
Mit Nützlichkeit.
John Bowlby nannte das unsichere Bindung: Ein Kind erlebt Bezugspersonen nicht als verankert, sondern als schwankend, abwesend oder überfordert. Nicht weil sie böse sind. Sondern weil sie selbst niemanden hatten, der blieb, wenn es weh tat.
Was daraus entsteht, ist kein einzelnes Trauma, es ist ein inneres Betriebssystem:
„Ich darf nur existieren, wenn ich funktioniere.“
„Ich bin nur sicher, wenn ich mich anpasse.“
„Ich bin nur liebenswert, wenn ich Leistung bringe.“
Wer das tief genug abspeichert, baut sich eine Existenz ohne Innenleben. Er lächelt, wenn er arbeiten soll. Er schweigt, wenn er ein Bedürfnis spürt. Er entwickelt eine Vorliebe für messbare Indikatoren des Erfolgs:
Punkte. Gehalt. Bonusstufen. Flugmeilen.
Weil Zahlen für ihn viel einfacher sind als Gefühle. Und vor allem: Sicherer.
So wird aus einem vernachlässigten Kind ein Systemträger, aus einem Jungen ein Chef, aus einem emotional unterernährten Menschen ein verdammt effizienter KPI-Zombie.
Die seelische Sprachlosigkeit in Anzuggröße 52
Jürgen fühlt nichts. Also: nicht in Worten. Nicht in Bewusstsein. Er ist gestresst, sagt er. Genervt. Unter Strom. Fragt man ihn, wie das ist, sagt er: „Keine Zeit für sowas.“
Er verwechselt Effizienz mit emotionaler Entfernung.
Peter Sifneos nannte das Alexithymie: Die Unfähigkeit, Emotionen zu benennen, zu sortieren, zu mentalisieren.
Es geht nicht darum, dass keine Emotionen vorhanden sind. Es geht darum, dass keine innere Landkarte existiert, auf der sie beschrieben werden können. Und reisen ohne Landkarte ist vor allem: bedrohlich.
Jürgen erlebt Gefühle wie Stürme: Sie kommen, reißen was runter, stören den Betrieb.
Und dann arbeitet er weiter.
Er ist nicht kalt. Er ist blind. Nicht, weil ihm etwas fehlt. Sondern weil in seiner Biographie niemand vorgesehen hat, dass er sich selbst kennenlernt.
Er kennt seine To-do-Liste besser als seinen Puls. Er kann sagen, wie hoch die Conversionrate war. Aber nicht, ob er gerade Angst hat oder einfach nur nicht mehr kann. Und woher die Kopfschmerzen und das Ziehen in der Brust kommen? Bestimmt zu viel Kaffee.
„Wie geht es dir?“ ist für ihn keine Frage.
Es ist eine Bedrohung der Fassade.
Der Hemdknopf unter Spannung: Vernachlässigte Körper unter Druck
Jürgens Bauch drückt gegen das Hemd wie eine chronisch unterdrückte Wahrheit. Der Knopf droht. Er weiß es. Sein Körper spricht, aber niemand hört zu.
Nicht krank. Nicht faul. Nur: Übergangen.
Er isst, wenn der Kalender es zulässt. Er schläft, wenn der Output es erlaubt. Er bewegt sich, weil Google Maps es verlangt. Nicht weil er Hunger, Müdigkeit oder Lust spürt. Er hat keine Zeit für „Selfcare“. Er ist ja auch Leistungsträger, kein Hippie.
Er ist nicht dick. Er ist vernachlässigt. Von sich selbst. Ein Vehikel, das weiterfahren muss, obwohl der Tank schon dreimal leer war.
Oder noch nie eine Tankstelle gesehen hat.
Sein Körper ist keine Ressource mehr. Er ist Lagerfläche für Frust, Druck und Prestigestatus. Ein Container in Business Casual.
Die Kosten, die er selbst nicht zahlen kann
Was Jürgen in sich trägt, ist nicht nur Überforderung, nicht nur emotionale Blindheit.
Es ist ein stiller Schaden. Kein Burnout. Kein Trauma im klassischen Sinn.
Es ist das, was Jonathan Shay und später Brett Litz in der Psychologie „Moral Injury“ nannten:
Ein seelischer Riss, der entsteht,
wenn ein Mensch Dinge tut (oder unterlässt),
die gegen sein eigenes Wertegefüge verstoßen.
Nicht weil er böse ist,
sondern weil das System es verlangt.
Jürgen entscheidet.
Er rationalisiert Kündigungen.
Er genehmigt Überstunden, die ruinieren.
Er unterschreibt Strategiepapiere, die Menschlichkeit als „Soft Factor“ vermerken.
Und irgendwann sitzt er da,
mit seinem Cognac, seinem Titel, seinem SUV.
Und merkt: All der Erfolg hatte einen Preis.
Und der Preis war so hoch, dass selbst er ihn nicht zahlen konnte.
Das Gefühl, ein guter Mensch zu sein.
Im Einklang mit seinen Werten und Idealen zu leben.
Dieser Schaden hat keinen Namen in der Organisation. Nur Symptome:
Zynismus. Leere. Aggression. Schlaflosigkeit.
Oder einfach: Ein schweigender Blick auf die Lichter der Stadt, mit der bohrenden Ahnung, dass man sich selbst irgendwann verraten hat.
Nicht alle Führungskräfte zerbrechen daran.
Aber alle zahlen.
Und manchmal ist der Preis zu hoch für eine Person.
Der performative Panzer mit PowerPoint
Er hat keinen Charakter. Er hat ein Habitus-Upgrade mit Kultur-Filter. Souverän wirken. Stark auftreten. Unangreifbar sein.
Bourdieu würde nicken: Das ist symbolisches Kapital in Reinform.
Jürgen ist die perfekte Unlesbarkeit. Aber nur weil Unlesbarkeit Sicherheit bedeutet.
Er ist der Mensch, der nie stört. Nie zweifelt. Nie zittert.
Und dafür belohnt wird.
Denn Organisationen befördern keine Menschen. Sie befördern Fassaden, die nie um Hilfe bitten. Sie belohnen Panzer, die PowerPoint beherrschen, nicht sich selbst.
Das System: Eine Organisation, die Angst mit Exzellenz verwechselt
Jürgen ist kein Problem. Er ist ein Symptom. Er ist das, was man bekommt, wenn man Führung mit Funktion verwechselt, und Menschen zu Projektionsflächen mit Outlook-Kalendern macht.
Organisationen sagen: „Wir wollen Vertrauen.“
Aber sie belohnen Kontrolle. Sie sagen: „Wir wollen Wandel.“
Aber sie dulden keine Unsicherheit. Sie sagen: „Wir wollen echte Menschen.“
Charaktere. Persönlichkeiten.
Aber sie schaffen Bedingungen, in denen Menschsein stört.
Was sie bekommen, sind Männer wie Jürgen: Effizient. Leer. Kaputtreguliert.
Und dann stehen sie da, vor leeren Stuhlreihen bei Kulturwandel-Workshops, und fragen sich, warum niemand mehr zuhört, wenn sie „New Work“ sagen.
Der leise Kollaps in Abteil 1, Erste Klasse
Jürgen sitzt im ICE. Er hat alles. Titel. Gehalt. Termine.
Und keinen Satz, mit dem man aufhört, kaputt zu sein.
Er steigt aus. Die Krawatte sitzt. Die Augen auch. Nur das Innere ist verrutscht.
Und dann, für einen Moment, bleibt er stehen. Nicht weil er will.
Sondern weil er nicht mehr weiterkann.
Vielleicht hat sich der Sohn gemeldet. Die Exfrau. Ein Kollege der sagt: “Schön, dass du da bist.”
Dann: Kein Breakdown. Kein Drama. Nur eine kurze, brutale Wahrheit:
„Ich war nie wirklich da. Ich war nur nützlich.“
Aber das System wird ihn weitertragen. Er wird in den nächsten Konferenzraum einfahren wie ein emotionsloser Tanker. Er wird präsentieren, verhandeln, abnicken. Und er wird Entscheidungen treffen, die andere zerbrechen lassen.
Denn so funktioniert Macht in Organisationen: Der Zerstörte wird zum Zerstörer. Der Verstummte diktiert die Lautstärke. Und der, der sich selbst nie gespürt hat, entscheidet über andere, als wären sie Maschinen.
Vielleicht bleibt Jürgen einen Moment stehen. Vielleicht flackert da kurz etwas in ihm. Aber das reicht nicht. Es rettet niemanden.
Nicht die, die unter ihm arbeiten. Nicht die, die nach ihm kommen. Nicht ihn selbst.
Am Ende wird Jürgen genau das tun, was das System von ihm verlangt. Was er immer von sich selbst verlangt hat:
Er wird weiterlaufen. Er wird funktionieren. Er wird führen.
Und er wird weitergeben, was ihn zerstört hat.
Nicht weil er böse ist.
Sondern weil niemand je gesagt hat, dass er damit aufhören darf.
Sehr gute Beschreibung. Der Druck legte sich direkt auf meine Brust und ich spürte, wie ich kaum noch Atmen konnte. Die Frage die bleibt ist, wie geht es den Führungskräften Brunhilde, Uschi und Lisa in der Chefetage?
Wieder wunderbar zu lesen 📖! Ich wusste nicht, dass das Nicht-Benennen-Können von Gefühlen einen echten Terminus Technikus hat … Alexithymie … oft bei anderen erlebt! Ich frage mich, ob die Benedikts, Laras und Kevins es besser hinbekommen! Freue mich schon jetzt auf den nächsten Beitrag. Danke 🙏 Dagmar